Das Grauen der Tierversuche

Zwischen Wegschauen und Handeln

Tabletten gegen Kopfschmerzen zu schlucken oder die trockene Haut im Winter einzucremen sind für uns ganz selbstverständliche Dinge. Wenn überhaupt, dann denken wir nur sehr ungern darüber nach, welche Prozesse die Produkte bereits durchlaufen haben. Warum sollte uns das überhaupt interessieren? Wichtig für uns ist doch einzig und allein der persönliche Nutzen: Keine Schmerzen mehr und ein gepflegtes Äußeres.

Doch dann erreichen uns hin und wieder doch die Bilder, die es einem eiskalt den Rücken runterlaufen lassen. Bilder von Tieren in Käfigen in tristen, kühlen Labors, denen Substanzen injiziert werden. Obwohl der Großteil der Tierversuche durch unsere Steuergelder finanziert wird, kommen wir kaum an Informationen heran, die uns Auskunft darüber geben, welche Versuche wo durchgeführt werden. Erst wenn mutige Tierschützer in die Labore gelangen, erkennen wir das wahre Ausmaß.

Unverzichtbare Experimente?

Der Verein „Ärzte gegen Tierversuche“ beklagt die steigenden Versuchszahlen in tierexperimentellen Einrichtungen, es sei geradezu alarmierend. Die engagierten Ärzte fordern ein entschiedenes Durchgreifen seitens der Politik und bringen starke Argumente mit: Tierversuche sind zum einen aus ethischen Gründen abzulehnen, zum anderen liefern sie oft irrelevante, nicht auf den Menschen übertragbare Ergebnisse. Ganze 95 Prozent der am Tier als wirksam und sicher getesteten Medikamente zeigen bei der anschließenden Anwendung am Menschen entweder gar keine Wirkung oder besorgniserregende Nebenwirkungen.

Das Verhältnis zwischen Mensch und Tier scheint widersprüchlicher denn je zu sein. Zum einen lieben und verehren wir unsere Haustiere vom Hund bis zum Kanarienvogel, zum anderen akzeptieren wir die Experimente hinter verschlossenen Türen. Es handelt sich um ein Spannungsfeld zwischen Hingabe und Eigennützigkeit. Wissenschaftler, die Tierversuche für ihre Studien nutzen, beschreiben jene häufig als unverzichtbar. Es sei nötig, das Tier als Modellorganismus zu erforschen, heisst es. Nichtsdestoweniger sucht das Bundesforschungsministerium in bislang rund 600 Projekten nach Alternativen, was dringend erforderlich ist, denn der Tierschutz ist im deutschen Grundgesetz verankert.

 2,8 Millionen Tiere als Versuchsobjekte

Doch was genau sind Tierversuche überhaupt? Definieren lassen sie sich als wissenschaftliche Experimente an lebenden Tieren, auch Versuchstiere genannt. Ziel ist dabei der Erkenntnisgewinn in der sogenannten Grundlagenforschung sowie das Entwickeln und Erproben neuartiger medizinischer Therapiemöglichkeiten. Durchgeführt werden die Studien in Pharma- und Dienstleistungsunternehmen sowie an Universitäten und Forschungsinstituten. Die Tiere werden dabei nicht etwa aus Zoos und Haushalten entnommen oder in freier Wildbahn eingefangen, sondern in der Regel eigens für Forschungszwecke gezüchtet. Unter ihnen finden sich Hausmäuse, Wanderratten, Hamster, Meerschweinchen und Kaninchen. Frettchen, Hunde und Primaten werden ebenfalls herangezogen. Oft sterben die Tiere bereits während der Versuche oder werden nach Abschluss des Experiments getötet.

Die Bundesregierung zählte allein im Jahr 2017 125.614 Tiere, die in der Krebsforschung eingesetzt wurden. Insgesamt wurde an 2,8 Millionen Tieren geforscht. 27 Prozent von ihnen waren laut dem Landwirtschaftsministerium kurzzeitig mittelstarken Ängsten und Schmerzen ausgesetzt, fünf Prozent erlitten starke Schmerzen und neun Prozent starben nach einer Anästhesie.

Zulässig sind die Versuche trotzdem, und zwar für folgende Zwecke: Erkennung von umweltgefährdenden Einflüssen, Grundlagenforschung (das wissenschaftliche Fundament, auf dem jedwede weitere Forschungen aufgebaut werden), Überprüfung von Arzneien und Chemikalien auf ihre Unbedenklichkeit sowie Forschung zur medizinischen Gesunderhaltung von Mensch und Tier. Viele der Versuche sind in Deutschland gesetzlich vorgeschrieben – ohne sie keine Zulassung von Medikamenten, Chemikalien oder Pestiziden.

Um die Tests durchführen zu können, müssen die Forscher nachweisen, dass der Tierversuch unerlässlich und ethisch vertretbar sei. Offen gesagt: Ist dies überhaupt möglich?

Alternativen? Es gibt sie bereits

Tatsächlich existieren bereits eine Vielzahl an alternativen Methoden, die die Frage aufwerfen, warum die Wissenschaft nach wie vor auf teils grausame Verfahren setzt. Sämtliche Institutionen fördern die Entwicklung und Umsetzung der neuen Innovationen, unter ihnen das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) und die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG). Viele der Alternativen sind kostengünstiger und erfordern weniger Zeit.

Zu den förderungswürdigen Vorhaben zählt das „3R“-Konzept: Tierversuche sollen durch andere Methoden ersetzt (Replacement), falls dies nicht möglich ist, die Versuchstiere auf ein Minimum beschränkt (Reduction) und aus einem einzelnen Tierversuch so viele Informationen wie möglich gewonnen werden (Refinement). Zu den konkreten Projekten zählen der Einsatz von dreidimensional wachsenden Zellkulturen, bildgebenden Verfahren wie Ultraschall und Kernspintomographie und Simulationen am Computer. Weiterhin versuchen Wissenschaftler, die verschiedenen Organsysteme des menschlichen Körpers auf Biochips nachzubilden und miteinander in Verbindung zu bringen. Derartige Systeme gibt es schon heute für Leber, Niere, Lunge und Nervenzellen.

Exkurs: „Wie funktionieren Biochips?
Modernste Techniken erlauben die Schaffung eines künstlichen Körpers, der das menschliche Stoffwechselsystem lebensecht nachstellt. Auf einem nur wenige Zentimeter großen Mikrochip werden Kammern angebracht, die mit lebenden Zellen ausgekleidet sind und so die Organe in Miniformat bilden.“ Quelle: https://www.aerzte-gegen-tierversuche.de/de/infos/tiefergehende-infos/stellungnahmen/1910-stellungnahme-zu-biochip-verfahren

Ein weiteres, erfolgsversprechendes Verfahren ist das „Microdosing“, bei dem Freiwillige einmalig eine extrem geringe Dosis eines Wirkstoffes erhalten. Dabei werden sie von modernsten bildgebenden Verfahren überwacht. Ein solches Verfahren kann den Tierversuch also umgehen und zeigt direkt am Menschen, ob ein Medikament funktioniert oder nicht.

Die Gegenstimmen werden lauter

Es ist wenig überraschend, dass die Gegenstimmen lauter werden. Tierschützer werfen die Frage in den Raum, ob menschliche Interessen wirklich Vorrang vor den Interessen anderer Lebewesen hätten. Das Tier ist ein fühlendes Wesen und verdient eine kongeniale Behandlung. Um Tierversuche ethisch beurteilen zu können, darf die bloße Nützlichkeitsabwägung nicht zur Basis werden.

Natürlich sind all diese Methoden noch nicht final ausgereift. Aber viele Menschen wünschen sich bereits jetzt, die Tierversuche nicht länger zu unterstützen. Hilfreich ist hierbei die Kosmetika-Positivliste des Deutschen Tierschutzbundes, die jene Hersteller aufzeigt, die auf Tierversuche verzichten. Viele Handelsprodukte sind außerdem durch entsprechende Siegel gekennzeichnet, etwa durch die Aufschrift „Kontrollierte Naturkosmetik“. Die Organisation PETA finanziert solche positiven Entwicklungen und veröffentlicht regelmäßig Forschungsergebnisse zur Überlegenheit alternativer Testverfahren.

Ministerin Julia Klöckner (CDU) sprach bei ihrem Amtsantritt von einer ethischen Pflicht, Alternativen zu Tierversuchen zu entwickeln. Die Bundesregierung steht zudem unter massivem Druck, denn seit Sommer 2018 sieht sie sich einem sogenannten Vertragsverletzungsverfahren ausgesetzt. Aus Brüssel hagelt es Vorwürfe, Deutschland müsse bei der gesetzlichen Verankerung des Tierschutzes nachbessern – ganze 20 Punkte stehen auf der Mängelliste.

Es steht außer Frage, dass Alternativen zu Tierversuchen hohe Erfolgsquoten aufweisen. Doch ihre Entwicklung kostet Geld, viel Geld und birgt für Unternehmen und Institute ein finanzielles Risiko. Daher wird auch in Zukunft ein entschiedenes Engagement durch die zuständigen Bundesministerien unerlässlich sein.

Quellen: Ärzte gegen Tierversuche e.V., Deutsche Forschungsgemeinschaft, MDR, Bundesministerium für Bildung und Forschung, PETA

Recherche und Text: Gastautorin Marlene Apel
Auftraggeber und Lektorat: Lars Boettger